Wie die Hummel, die Fliegen kann …


Wie die Hummel, die fliegen kann …
(Kreis-Anzeiger am 19.07.2019)

Vor zehn Jahren gegründet: Energiegenossenschaft landet mit Nahwärmenetz in Bergheim trotz aller Zweifler und Skeptiker großen Erfolg.

Von Oliver Potengowski

BERGHEIM – Vor zehn Jahren gründeten Bergheimer Bürger eine Energiegenossenschaft. Seit inzwischen acht Jahren versorgt sie, allen anfänglichen Zweifeln zum Trotz, über ein Nahwärmenetz rund die Hälfte der Einwohner des Dorfes mit umweltfreundlicher Heizenergie und warmem Wasser. Dabei hatten in der Gründungsphase vermeintliche Experten dem Projekt noch bescheinigt, nicht wirtschaftlich arbeiten zu können.
Hartmut Langlitz, Vorsitzender des Aufsichtsrates, kann heute über solche Voraussagen lachen. Er vergleicht die Energiegenossenschaft mit der Hummel, die fliegt, obwohl sie es nach den Gesetzen der Aerodynamik scheinbar nicht kann. Dass die Gründer und Mitglieder Aufgaben pragmatisch und auch gegen kritische Stimmen angehen und lösen, ist eines der Erfolgsrezepte der Energiegenossenschaft. Dazu sehen die Mitglieder Chancen, wo andere eher ein Problem sehen.

Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Energiegenossenschaft Bergheim sind sichtlich stolz auf das, was sie in zehn Jahren erreicht haben.
So begriffen sie die Erneuerung des Kanalnetzes in ihrem Dorf als einmalige Gelegenheit, zusammen mit den Abwasserrohren auch ein Leitungsnetz zur Versorgung der Häuser in die Erde zu bringen. Zusätzlichen Schub bekam das Projekt durch den damaligen Heizölpreis, der sich scheinbar unaufhaltsam einem Euro je Liter näherte. Durch eine Heizzentrale, die Holzhackschnitzel nutzte, sahen die Bergheimer die Möglichkeit, sich von dieser Preisentwicklung abzukoppeln.
Während der Beginn der Kanalarbeiten immer näher rückte, diskutierten die Dorfbewohner bei regelmäßigen Versammlungen das Für und Wider eines Nahwärmenetzes, wie das nötige Geld aufgebracht oder ob man einen externen Betreiber mit Bau und Unterhalt beauftragen sollte (Contracting). Manch einer zog den Sinn des Projekts grundsätzlich in Frage. Den Gründern war klar, dass das Nahwärmenetz zwar ökologisch sinnvoll ist. Es musste aber auch ökonomisch rentabel sein. Denn ohne eine entsprechende Wirtschaftlichkeit wäre keine Bank bereit gewesen, das Projekt zu finanzieren. Wäre der Energiepreis zu hoch, würden sich nicht genug Interessenten finden. Kämen nicht genug Anschlüsse zusammen, könnte das Netz nicht wirtschaftlich arbeiten.
„Wir hatten am Anfang auch mit der negativen Machbarkeitsstudie zu kämpfen“, sagt Aufsichtsratsmitglied Bernd Wenzel. Auf der anderen Seite zeigte das Interesse der Stadtwerke Gießen an Bau und Betrieb des Nahwärmenetzes, dass es offenbar durchaus Chancen auf Rentabilität gab. „Wir hatten überlegt, ob es sich lohnt oder nicht lohnt“, sagt Vorstandsmitglied Benjamin Kleer. Denn um wirtschaftlich zu werden, mussten noch mehrere 10 000 Euro eingespart werden. „Wir haben eine Wanderung um Bergheim gemacht und entschieden, entweder wir machen es alle zusammen oder wir machen es nicht.“
„Es stand Spitz auf Knopf“, beschreibt Langlitz den kritischen Punkt der Gründungsphase, als die Genossenschaft noch nicht eingetragen, aber bereits finanzielle Verpflichtungen entstanden waren. „Da haben wir mit dem Privatvermögen gehaftet.“ Er habe sich damals überlegt, „wenn wir jetzt umgehen, zahle ich privat 10 000 Euro.“ Dazu rückte der Beginn der Kanalarbeiten immer näher. Wenn es nicht gelänge, das Nahwärmenetz zusammen mit dieser Baumaßnahme zu errichten, wäre die Wirtschaftlichkeit des Projekts nur schwer zu erreichen gewesen. Rund 100 Abnehmer hätte das Netz haben müssen, um rentabel zu sein. Mit 108 Anschlüssen wurde diese Zahl schließlich übertroffen. „Es wären mit Sicherheit mehr dazu gekommen, wenn sie nicht gerade eine neue Heizung eingebaut hätten“, meint Aufsichtsratsmitglied Gerhard Lotz.
„Dafür fällt am Geburtstag meines Sohnes auch nie mehr die Heizung aus“, scherzt Markus Habiger vom Vorstand. Bevor er am Nahwärmenetz angeschlossen wurde, hatte er das drei Jahre in Folge erlebt. Wie zur Bestätigung bekommt sein Vorstandskollege gerade einen Anruf, dass in seinem Mietshaus die Heizung ausgefallen ist. „Es gab seit acht Jahren noch nie eine Havarie, dass es kalt war“, betont Langlitz nicht ohne Stolz. Dazu tragen nicht zuletzt die 27 Helfer in sieben Teams bei, die den Betrieb der Anlage sichern und bei Störungen sofort vor Ort sind, um auch kleine Reparaturen zu erledigen.
Rund 3,3 Millionen Euro haben die Genossen für das Nahwärmenetz, die Heizzentrale und zwei Photovoltaikanlagen investiert. 700 000 Euro wurden über Genossenschaftsanteile, 680 000 Euro über einen Tilgungszuschuss der KfW und 200 000 Euro über eine Förderung des Landes Hessen aufgebracht. Rund 1,7 Millionen mussten finanziert werden.
Mehr als 500 000 Euro des Darlehens seien bereits zurückgezahlt, jährlich würden rund 100 000 Euro getilgt. „Noch circa elf Jahre, dann sind wir durch“, rechnet Habiger. Neben der VR-Bank Main-Kinzig-Büdingen, die die Finanzierung übernommen habe, danken die Genossen aber auch der Sparkasse Oberhessen, die den Zugang zu der Landesförderung gewiesen habe, und der Stadt Ortenberg. „Durch die Bürgschaft der Stadt sind wir in das günstigste Rating gelaufen“, sagt Habiger. Dadurch habe die Energiegenossenschaft Bergheim weniger Zinsen zahlen müssen als andere Energiedörfer.
„Die Kosten für das Netz sind teurer geworden“, räumt er dagegen ein. „Das ist nicht planbar“, ergänzt Vorstandsmitglied Franz Oppolzer. Statt der geplanten 480 000 Euro kostete die Verlegung der Heizungsrohre schließlich 780 000 Euro. Doch weil die Mittel begrenzt waren, mussten die Mehrkosten an anderer Stelle wieder eingespart werden. So wurde die Trassenführung des Netzes optimiert und bei anderen Kosten nachverhandelt. „Jede Firma, die hier mitmachen wollte, musste sich unseren Verhandlungen unterziehen“, erklärt Kleer. Vor allem aber wurden die Arbeiten nahezu lückenlos überwacht. „Entscheidend war, dass wir immer vor Ort waren“, stellt Habiger fest. „Wenn etwas aus dem Ruder gelaufen ist, konnten wir sofort eingreifen.“ Langlitz fügt hinzu: „Wir haben die Kompetenzen des ganzen Ortes gebündelt.“ So war es möglich, letztlich im Kostenplan zu bleiben.
Außerhalb des Planes bewegt sich dagegen der Einsatz der Heizung mit Holzhackschnitzeln. Allerdings im positiven Sinn. „Wir hatten damals kalkuliert, 85 Prozent aus Holz zu nehmen und den Rest aus Heizöl“, sagt Langlitz. Im schlechtesten Jahr habe die Anlage zu 97 Prozent, in guten Jahren sogar zu 99 Prozent mit Holz betrieben werden können. Dadurch seien regelmäßig Rückzahlungen der Abschlagszahlungen an die Mitglieder möglich gewesen. Um von Hackschnitzellieferungen unabhängiger zu werden und auch Stammholz, das die Genossenschaft teilweise kostenlos angeboten bekommt, nutzen zu können, wurde 2013 ein zusätzlicher Bunker neben der Halle gebaut. Derzeit ist das nächste Projekt in Planung, um die Effizienz des Nahwärmenetzes weiter zu steigern. Neben der Heizzentrale soll eine Solarthermie-Anlage gebaut werden. Damit könnte in den Sommermonaten so viel heißes Wasser erzeugt werden, dass die Hackschnitzelheizung nicht betrieben werden muss.